Gastbeitrag von Norbert Nagel, Neckargemünd, 17.6.22
Die großen gegenwärtigen Veränderungen wecken Gefühle, die notwendig sind, die Herausforderungen zu meistern. Emotionale Kompetenz hilft uns, den Zusammenhang von wahrnehmen, denken, fühlen und handeln zu verstehen und dialogfähig zu bleiben.
Veränderungen sind meist mit intensiven Gefühlen verbunden
Im Jahr 2022 erleben wir als Gesellschaft große Veränderungen. Der Krieg in der Ukraine, die allgemeine Teuerung, die Meldungen von drohenden Versorgungsengpässen, sichtbare Dürre und Unwetter in Folge des Klimawandels. Und noch immer die Masken in der Hosentasche und die Unsicherheit im Fortgang der Pandemie. Politiker, die neben ihrem Sachverstand auch etwas von ihrem emotionalen Erleben zeigen, schneiden in der Gunst der Wähler derzeit besser ab. Offenbar finden sich die Wähler in ihnen eher verstanden und vertreten. Und dennoch können wir uns schnell die Gradwanderung verdeutlichen: Stellen sie sich vor, ein Politiker oder eine Politikerin würde vor laufender Kamera im Anblick der Zerstörungen in der Ukraine anfangen zu weinen. Schnell könnte diese Gefühlsäußerung als Schwäche ausgelegt werden. Er/Sie ist ihrer/seiner Aufgabe nicht gewachsen, könnte gesagt werden. Derjenige hingegen, der zu sachlich-abwägend über die Situation spricht, gilt dann schnell als unsensible*r Bürokrat*in mit mangelndem Einfühlungsvermögen.
Es gibt kein Denken ohne Fühlen (i) und kein Fühlen ohne Denken
Wahrnehmungen werden bewertet und davon hängen unsere Gefühle ab. Die Bilder schreiender weinender Kinder und zerbombter Häuser bewerten wir unmittelbar als schrecklich, ebenso die Bilder von Leichenwagen und Menschen unter einem Sauerstoffzelt in der Pandemie. Wir bewerten sie „schematisch“ unter Zugriff auf Grundschemata von Grauen und Entsetzen, die wir in unserer Lerngeschichte früh entwickelt haben. Die andere Form der Bewertung ist die „deliberative“. Hierfür verwenden wir vor allem die Informationen über Todeszahlen, Fluchtrouten oder Getreidemangel, benutzen unser Denken und argumentieren logisch schlussfolgernd. (ii) Einerseits haben die Medien starken Einfluss auf unsere Bewertung, andererseits sind wir frei, auch zu anderen Schlussfolgerungen zu kommen. Wir können die Bilder ebenso anzweifeln wie die Sachinformationen. Immer führt das zu einer anderen Handlungsaufforderung und einem anderen Gefühl. Lassen wir uns von dem verzweifelten Kind auf dem Foto und den zerbombten Häusern berühren, wird die eine ängstlich in die Zukunft schauen und der andere in Trauer verstummen. Der nächste ballt die Faust und spürt Ärger oder Hass auf den Aggressor.
Oder aber man stellt das Wahrgenommene, die Bilder und die Informationen, in Frage, fühlt sich belogen und erlebt Wut auf die Medien oder die Staatsmacht. Dazu kommt, dass wir über diesen Prozess von wahrnehmen, bewerten, handeln und fühlen auch noch alte Glaubenssätze bedienen, die mit der Gegenwart vielleicht gar nichts zu tun haben. Glaubenssätze wie zum Beispiel „die Welt ist böse“, „alle sind gegen mich“ oder „ich bin ein Versager“. Auch die sind mit Gefühlen wie Verzweiflung, Wut oder Trauer verbunden und bisweilen sind die aktuellen Ereignisse unbewusst eine Gelegenheit, diese alten unversorgten Gefühle wieder zu erleben.
Gefühle in der Komplexität verstehen
Ein Gefühl können wir erst begründen, wenn wir es im Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewertung und Handlungsimpuls verstehen. Ein Gefühl ist stets Teil eines komplexen innerpsychischen und sozialen Geschehens.
Ohne Wahrnehmung haben wir keine Gefühle und welches Gefühl wir zu einer Wahrnehmung haben, hängt davon ab, wie wir die Wahrnehmung bewerten. Bewerte ich mein Seitenstechen (Wahrnehmung) als drohenden Herzinfarkt (Bewertung), habe ich vielleicht Panik (Gefühl) und rufe den Notarzt (Handlung). Meine ich, das Stechen komme von der Hitze, bin ich vielleicht ärgerlich und schalt den Ventilator an.
Nutzen der Gefühle
Gefühle sind immer bezogen auf das Selbst oder andere Menschen oder Dinge, denen wir menschliche Eigenschaften zusprechen. Wie zum Beispiel dem Auto, das mich so „treu“ auf der weiten Reise begleitet hat.
Gefühle bestimmen die Qualität, bildlich gesprochen die Farbe, unserer Beziehung zu anderen und uns selbst und veranlassen uns zum Handeln. Sie sind unser Motor, bringen uns in Bewegung (emovere, lat. wegbewegen, emporheben).
Gefühle dienen der Überwachung und Sicherstellung unserer persönlichen Interessen. Sie zeigen uns deutlich, was wirklich wichtig für uns ist.
Gefühle lügen nicht, wenn wir sie in den Kontext unserer subjektiven Wirklichkeit einordnen.
Emotionale Kompetenz als Brücke für gelingende Beziehung
Emotionale Kompetenz, die uns hilft, Gefühle in der Komplexität subjektiver Wirklichkeit zu verstehen, ist die Chance zu gelingender Beziehung im Privaten wie in der Arbeitswelt und darüber hinaus für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie ist der Schlüssel, uns gegenseitig zu verstehen. Dass wir begreifen können, warum Menschen bei den gleichen Bildern und Informationen manchmal zu ganz unterschiedlichen Gefühlen und unterschiedlichem Handeln kommen. Warum zum Beispiel die einen eifrig die Masken tragen und zum Impfen gehen und andere stattdessen für Freiheit und Selbstbestimmung demonstrieren. Warum die einen Flüchtende aufnehmen und für die Ukraine spenden und andere kritisch auf die Erhöhung der Verteidigungsausgaben und das neu belebte Feindbild Russland schauen.
Aber Verstehen reicht nicht, um die Brücke für gelingende Beziehungen zu bauen. Der Transaktionsanalytiker Claude Steiner hat dafür das Konzept des kooperativen Vertrags formuliert. (iii) Erst wo Menschen bereit sind, ihre Gefühle, ihre Wahrnehmung, Bewertung und ihre Handlungsimpulse offen und ehrlich mitzuteilen und sich darüber auszutauschen, entsteht bezogenes Verstehen, können Respekt und gegenseitige Wertschätzung erwachsen – auch bei unterschiedlichem Denken und Fühlen. Allerdings geht das nur auf freiwilliger Basis und unter Verzicht auf Unterwerfung und Ausbeutung. Wie leicht geht es uns über die Lippen zu sagen: „Da musst du mir doch recht geben ….“. Eine unauffällige Form, Freundinnen oder Kollegen unter Druck zu setzen. Der kooperative Vertrag zielt auf ein Miteinander ohne Machtspiele und hilft uns, Unterschiede auszuhalten und konstruktiv zu nutzen. Er erfordert eine wertschätzende Grundhaltung und bedarf und fördert eine Beziehung auf der Basis von Anerkennung und Liebe.
Dadurch kann Polarisierung überwunden werden zugunsten eines bezogenen Dialogs und mitmenschlicher Unterstützung. Emotionale Kompetenz wird dann zur Brücke für gelingende Beziehungen auch in schwierigen Zeiten.
Im Oktober 2022 veranstaltet die Deutsche Gesellschaft für Emotionale Kompetenz einen Kongress zu dem Thema „Emotionale Kompetenz – Brücke für gelingende Beziehungen“. Die sechs Hauptvorträge halten Prof. Dr. Matthias Berking, Managementberater Andreas Gies, Prof. Dr. Rolf Göppel, Dr. med. Milan Meder, Dipl. Päd. Norbert Nagel und Facharzt Hartmut Oberdieck. Trainingseinheiten mit Lehrenden der DGEK ermöglichen selbsterfahrungsorientiertes Lernen. Der Kongress ist akkreditiert für Ärzt*innen, Psychotherapeut*innen, Pflegekräfte und Pädagog*innen.
Auch Interessierte anderer Berufe sind herzlich eingeladen. Heidelberg, 14.-16. Oktober 2022, Pädagogische Hochschule.
Informationen und Anmeldung: www.DGEK.de
Literatur
(i) Ciompi, L. Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 1997
(ii) Ben-Ze’ev, A. Die Logik der Gefühle. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag; 2013 (2)
(iii) Steiner, C. Emotionale Kompetenz. München/Wien: Carl Hanser Verlag; 1997
Autor: Dipl.-Päd. Norbert Nagel ist Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Emotionale Kompetenz DGEK e.V. sowie Lehrtrainer für Transaktionsanalyse (DGTA/EATA/ITAA), Emotionale Kompetenz (DGEK) und Mediation (DACH und DGTA). Ehemals Dozent für Erziehungswissenschaften University of Education Heidelberg.
Kontakt zum Autor: NorbertNagel@IPE-Nagel.de
Anschrift: Dreikreuzweg 78 69151 Neckargemünd