Einwurf: Schweigepflicht – der Pfad zwischen Verschwiegenheit und Verschweigen

Ein Gastbeitrag von Thomas Hüller.

Wenn ich an Diskussionen mit Patienten, Kandidaten und Kollegen zurückdenke, gibt es ein klinisches Phänomen, das mich immer etwas unzufrieden zurücklässt und von dem ich denke, es stecke doch viel mehr klinischer Inhalt drin, als ihm meist gegeben wird – die Schweigepflicht. Es hat auch viel mit unserer Identität als Psychotherapeuten zu tun. Wir sollten mehr darauf achten, dass wir uns nicht zu viel hinter unserem Fachwissen oder einem Wissen über einen Menschen verstecken. Wir sollten aufpassen, dass wir nicht zum Psychologen von Kurt Tucholsky werden – der alles weiß und sich später herausstellt, es stimmt nichts außer der Tatsache, dass der Psychologe wirklich Psychologe ist.

Natürlich wollen wir die Integrität unserer Patienten schützen – ihr und sein Wohl und ihr und sein Bessergehen ist doch das zentrale Motiv unserer Anstrengungen. Ich kann aber auch den Ärger von anderen Fachgebieten verstehen, erst recht den von Eltern, wenn sie den Eindruck haben, sie bekommen keinen oder keinen ausreichenden Einblick, von dem was wir machen und warum wir es machen. Wie würde ich mich selbst als Vater ärgern, wenn mir ein Kinderpsychotherapeut sagte, über mein Kind und das was es in der Therapie mache und warum es etwas mache, darüber könne er nichts sagen, weil er Schweigepflicht habe.

Ich gehe hier von dieser intimen Situation aus – den Umgang mit der Schweigepflicht innerhalb der Psychotherapie. Dort gibt es im Regelfall die Dreiersituation Kind- Eltern- Therapeut. Im Laufe meiner klinischen Arbeit bin ich dazu gekommen, dem Kind zu sagen: Es gibt hier meine Verschwiegenheit, von allem dem was du hier machst und sagst, gegenüber allen anderen Patienten, deinen Freunden, deinen Erziehern oder Lehrern, wenn es sein muss dem Jugendamt und der Polizei oder sonst jemand. Die Ausnahme hiervon betrifft allein deine Eltern, von denen du weißt, dass ich mit ihnen spreche. Wenn es etwas gibt, von dem du nicht willst, dass es deine Eltern erfahren in Worten oder auch in meinem Verhalten, dann bitte ich dich, mit mir darüber zu sprechen. Den Eltern andererseits sage ich, dass ich sie über den Verlauf der Psychotherapie mit ihrem Kind auf dem Laufenden halte, auch allgemein darstelle, was wir dort tun und warum, dass ich jedoch nicht auf Einzelheiten eingehen werde. Manchmal bitte ich sie zudem, unter Berücksichtigung ihres Wunsches, dass die Arbeit ein Erfolg wird, weder das Kind zu bedrängen noch ihre Erkenntnisse aus den Elterngesprächen in der Interaktion gegen das Kind zu benutzen.

Ich mache das, weil ich das Vertrauen aller Beteiligten brauche, dem Kind und dem seiner Eltern und weil ich will, dass alle ihr Verstehen erweitern. Das geht nur, wenn wir alle eine Grenze zwischen Psychotherapie und Erziehen kennen lernen und achten. Damit versuche ich auch von Beginn an dem Gift der Konkurrenz um die bessere Elternposition zu entgehen. Es soll hier, das versuche ich dann zu zeigen, nicht darum gehen, dass jemand verändert wird – zum besseren Kind, zu besseren Eltern – nein, es geht darum mit einer Realität umzugehen, einer Realität, die und das ist der Kern im Wesentlichen durch das Unbewusste bestimmt wird. Von daher würde mich in diesem Dreieck eine apodiktische Schweigepflicht stören. Aber wie kann eine psychodynamische Schweigepflicht aussehen? Es scheint eine zu sein, die etwas mit den unbewussten Motiven in diesem Dreieck zu tun hat und darauf kommt es mir hier jetzt an, zentral mit meiner Rolle darin.

Beispiel: Wenn sich Eltern wie die Kesselflicker streiten, wenn das Kind seit drei Wochen einnässt – und ich diese Fakten nur von der jeweils anderen Partei höre – dann beginnt die analytische Arbeit. Wollen sie, dass ich nichts davon weiß oder geben sie jeweils der anderen Partei den unbewussten Auftrag, mich davon in Kenntnis zu setzen? Ich spreche so gut wie nie mit Kindern und Eltern zusammen, es sei denn sie überrumpeln oder überzeugen mich im Einzelfall dazu. Wenn ich mit dem Kind zusammen bin, komme ich schnell dazu mir über die Motive der Eltern Gedanken zu machen und dies im Einzelfall auch verbal darzustellen. Spreche ich mit den Eltern komme ich oft dazu, mir über das Kind Gedanken zu machen und versuche seine Motive zu erklären und darzustellen. Es liegt also immer etwas in der Luft, von dem ich weiß, es gehört zur unbewussten Dynamik der Eltern-Kind-Beziehung, insbesondere der Eltern-Kind-Konflikte. Natürlich hört sich das manchmal auch so an, als würde ich das Kind aufklären, wozu Erziehung eigentlich gut sei, und warum es einen gesetzten Konflikt zwischen Gesellschaft und Individuum gibt.  In den Elterngesprächen sehe ich mich manchmal, als würde ich eine Einführung in die Entwicklungspsychologie geben. Aber das sind nur die Vorbereitung für das Eigentliche – die Arbeit am Widerstand gegen ein Bewusstwerden.

Natürlich geben wir Kinderanalytiker auch mal verhaltenstherapeutische Vorschläge oder wir machen uns tiefenpsychologische Gedanken um Übertragungen im Außen – aber die eigentliche Psychotherapie, wie wir sie verstehen, ist doch eine Operation am offenen Herzen – allerdings bei vollem Bewusstsein aller Beteiligten. Wenn ich das Herz sehe und fühle, seine Schläge oder Irritationen in Struktur und Beziehung im hier und jetzt erlebe, dann bin ich da, wo ich hinwill – am Unbewussten. Dazu müssen alle drei bereit sein – das Kind als Patient, die Eltern trotz ihrer Achillesferse Kind und auch ich in meiner Gegenübertragung. Dass wir dazu bereit sein können, hat viel mit Vertrauen zu tun. Dem Operateur gibt man sich nur mit Vertrauen hin. Er muss Vertrauen zu seinen Fähigkeiten und zur Verfassung der Patienten haben. Das hat aber neben diesem Vertrauen etwas zu tun mit dem Verstehen von psychoanalytischen Inhalten und psychoanalytischer Technik – nicht nur beim Therapeuten. Und es hat besonders viel damit zu tun, dass keiner der Beteiligten das Gefühl bekommt, bloßgestellt zu werden, sich verletzt fühlen in seinen Fähigkeiten und seinen Schwächen. All das scheinen wichtige Aspekte einer psychodynamischen Verschwiegenheit zu sein.  Die setzt sich jedoch ab von der apodiktischen, von der ich oft den Eindruck habe, sie werde zu sehr als eigener Schutzschild für Gefahren und Konflikte verwendet. Es gibt im Sinne des Wohles des Patienten eine eigene Verantwortung zur Entscheidung, bei der ich mich nicht immer hinter Gesetzten verschanzen kann. Selbstverständlich werden Kandidaten und Berufsanfänger hier besonders vorsichtig sein. Aber ich finde es wichtig auch Ihnen zu vermitteln, dass das es nicht immer so einfach ist, hier Grenzen zu ziehen.  Auch zwischen individuellen Behandlungsfall und Vorschriften kann es Konflikte geben.

Was ist mit Jugendlichen? Es gibt da für mich einen schwimmenden Übergang vom Kind zum Volljährigen – für den natürlich eine endgültige juristische Schweigepflicht gilt. Bei den Pubertäreren und Adoleszenten hängt dieser Übergang von dem Alter, der Entwicklungsstufe und der Pathologie ab. Aber auch hier gilt, wie für die Arbeit mit Kindern: Wenn ich noch begleitende Elterngespräche durchführe, kann ich eine unbedingte Schweigepflicht gar nicht einhalten. Ganz abgesehen von realen Gefahren für den Patienten – allein meine Gefühle, mein Verhalten, meine Affekte übertragen bewusstes und vor allem unbewusstes Material von dort nach hier. Auch das will allen erklärt sein. Auch hier muss ich meine psychodynamische Schweigepflicht dem besonderen Behandlungsfall und seinen beteiligten Menschen anpassen.

Thomas Hüller
Praxis für Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie Psychoanalyse – Supervision – Gutachten

Gaußstraße 15  
60316 Frankfurt am Main

hueller.thomas@t-online.de

1 Antwort zu “Einwurf: Schweigepflicht – der Pfad zwischen Verschwiegenheit und Verschweigen”

  1. Ein wichtiger, ein notwendiger Beitrag zur therapeutischen Diskussion.
    Ein paar Anmerkungen seien mir erlaubt:
    Ich hadere ziemlich mit dem Satz: „Den Eltern andererseits sage ich, dass ich sie über den Verlauf der Psychotherapie mit ihrem Kind auf dem Laufenden halte, auch allgemein darstelle, was wir dort tun und warum, dass ich jedoch nicht auf Einzelheiten eingehen werde. Manchmal bitte ich sie zudem, unter Berücksichtigung ihres Wunsches, dass die Arbeit ein Erfolg wird, weder das Kind zu bedrängen noch ihre Erkenntnisse aus den Elterngesprächen in der Interaktion gegen das Kind zu benutzen.“
    Gilt nicht auch hier – und besonders, da es sich um Eltern, emotional beteiligte und psychotherapeutisch laienhaft empfindende Menschen, handelt -, dass Gefühle, Verhalten, Affekte das Wissen aus dem EG bewußt und unbewußt übertragen in die Familie? Stellt das – trotz eingebrachter Bitten – unkontrollierte Agieren der Eltern keine Gefahr dar für die Therapie, die Vertrauensgaratie des Therapeuten gegenüber dem Klienten?
    Besonders stoße ich mich an dem schweigepflichtbezogenen Umgang mit Jugendlichen. Ich bin der Ansicht, dass für jeden Klienten, nicht nur für den volljährigen, eine „endgültige juristische Schweigepflicht“ gilt! Aber ich will mich gar nicht hinter das StGB zurückziehen. Abgesehen davon, dass ich nicht erkenne, welche realen Gefahren in diesem Zusammenhang für jugendliche Klienten bestehen, denke ich, dass gerade hier die Schweigepflicht eine wesentliche Rolle einnimmt. Ist es nicht so, dass wir Therapeuten nicht nur von unseren Klienten Vertrauen einfordern, sondern, besonders im Jugendalter, dieses Vertrauen auch bereit sein müssen, zu geben? Wie können Verantwortung, Selbständigkeit, „Erwachsen-Werden“ gelingen, wenn wir kein Vertrauen in unsere Klienten haben? Denn das drückt sich aus für mich in der „Anpassung“ der Schweigepflicht.
    Diese langsame Aufweichung einer wesentlichen Grundlage psychoanalytisch-psychotherapeutischen Handelns lässt mich etwas frösteln…

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